Lateinamerika: Ende des progressiven Zyklus?

Stellt das Jahr 2015 eine Zäsur in der jüngeren lateinamerikanischen Geschichte dar?

von Ulrich Brand

Obwohl sich seit einiger Zeit durchaus Legitimitätsverluste der progressiven Regierungen und zunehmende wirtschaftliche Probleme abzeichnen, schien es noch in den beiden Jahren zuvor so, als ob sich in den meisten Ländern die Regierungen der linken und Mitte-Links-Projekte konsolidiert hätten. Rafael Correa erreichte im Februar 2013 bei den Präsidentschaftswahlen in Ecuador gut 57 Prozent und seine Partei Alianza PAIS gar eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. In Chile wurde nach der Niederlage der Mitte-Links-Regierung im Jahr 2009 im Dezember 2013 die Präsidentschaft unter Michelle Bachelet und ihrer Sozialistischen Partei zurückgewonnen,– und zwar mit über 62 Prozent gegen ihre konservative Konkurrentin. Evo Morales mit seinem Movimiento al Socialismo wurde in Bolivien im Oktober 2014 mit fast 60 Prozent der Stimmen bestätigt, und einen Monat später erreichte Tabaré Vázquez von der Frente Amplio in Uruguay knapp 54 Prozent.

Doch schon der überaus knappe Wahlsieg von Nicolás Maduro bei den Präsidentschaftswahlen in Venezuela im April 2013 (unmittelbar nach dem Tod von Hugo Chávez) deutete Verschiebungen an. In Ecuador verlor die Regierungspartei bei den Kommunal- und Regionalwahlen im Februar 2014 in 19 der 20 größten Städte. Auf Veränderungen deuteten auch die knappen 51,6 Prozent von Dilma Rousseff vom brasilianischen Partido dos Trabalhadores (PT) in der Stichwahl gegen Aécio Neves im Oktober 2014 hin. Die starken Proteste von Juni und Juli 2013 sowie die Korruptionsskandale in dem Land brachten Rousseff an den Rand einer Niederlage.

Dann kam das Jahr 2015. Bereits bei den Kommunalwahlen in Bolivien im März 2015 gewann die MAS in keiner der acht größten Städte und verlor dabei ihre traditionellen Hochburgen Cochabamba und El Alto. Ende des Jahres dann zwei einschneidende Ereignisse. In Argentinien verlor der Peronismus bei den Präsidentschaftswahlen im November mit einem ohnehin gemäßigten und eher rechts-gerichteten Kandidaten, Daniel Scioli, gegen den politisch deutlich rechts stehenden Mauricio Macri. Macri gewann mit einem demagogischen und inhaltlich wenig profilierten Wahlkampf mit 51,3 Prozent.

Abgewählt wurde der in der Tradition des linken Peronismus sich verstehende Kirchnerismus, der als Mitte-Links-Regierung das Land seit 2003 politisch prägte. Die ersten Monate des Jahres 2016 zeigen, dass der neue Präsident es mit dem angekündigten Wandel ernst nimmt: Er hat die Exportsteuern (etwa für die Bergbaukonzerne) abgeschafft oder (auf das inzwischen wichtigste Exportprodukt Soja) gesenkt. Die Devisenkontrollen auf den Peso wurden ausgesetzt und dieser damit stark abgewertet, was sofort mit Einkommensverlusten jener Bevölkerungsschichten einher geht, die nicht über Dollar verfügen. Zudem kommt es zu einer Schwächung der Industrie und zum Druck auf die Löhne. Insgesamt handelt es sich um eine Politik für die Großbourgeoisie, für multinationale Konzerne und das Finanzkapital, die auch durch soziale Einschnitte begleitet wird. Außenpolitisch orientiert sich das Land wieder an den USA. Für informierte Beobachter steht die aggressive wirtschaftspolitische Neuausrichtung in Argentinien stellvertretend für die zu erwartenden Strategien der Rechten in Lateinamerika.

Während einige BeobachterInnen meinen, dass es sich um einen Unfall handelt, der in vier Jahren wieder ausgebügelt werden kann, weisen andere darauf hin, dass Macri eher Ausdruck einer allgemeinen Rechtsentwicklung ist. Hohe Inflation, wirtschaftliche Schwierigkeiten und Probleme bei der Energieversorgung führten zu Unmut und Unsicherheit.

Noch deutlicher verlor mit dem Chavismus in Venezuela Anfang Dezember 2015 eine sich als explizit links deklarierende Regierung die Parlamentswahlen. Die rechte Opposition der Mesa de la Unidad Democrática (MUD) erreichte 53 Prozent der Stimmen, die chavistische Partido Socialista Unido de Venezuela (PSUV) nur 44 Prozent. Durch das Wahlrecht verfügt erstere aber über knapp zwei Drittel der Abgeordneten, wodurch sie ein Referendum zur Amtsenthebung von Präsident Nicolás Maduro einleiten könnte, der eigentlich noch bis 2019 im Amt ist.

Argentinien und Venezuela sind schwerlich zu vergleichen – nicht nur in Bezug auf die sehr unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Im Süden des Kontinents eine durchaus bemerkbare Krise, in Venezuela aber ökonomisches Desaster, Hyperinflation und systematischer Knappheit von grundlegenden Lebensmitteln. Der Chavismus hat nicht nur sehr viel stärker die Macht der Bourgeoisie infrage gestellt als der Kirchnerismus, sondern das Land ist mit seinen enormen Ölreserven strategisch überaus bedeutend für die USA. Neben der internen Opposition in Venezuela könnte just der neue argentinische Präsident dazu beitragen, Venezuela innerhalb von Lateinamerika zu schwächen. Eine erste Initiative besteht darin, Venezuela aus dem Mercosur auszuschließen.

In Brasilien spitzt sich die Lage seit Dezember 2015 stark zu, insbesondere seitdem ein Verfahren zur Amtsenthebung von Rousseff eingeleitet wurde. Ende Februar lag Umfragen zufolge die Einschätzung der Präsidentin als mindestens „gut“ bei 11 Prozent (vor drei Jahren noch bei 65 Prozent), 60 Prozent der Befragten sind für eine Amtsenthebung und 58 Prozent für einen sofortigen Rücktritt. Anfang März 2016 fand dann sogar eine Hausdurchsuchung bei der Ikone der Arbeiterpartei, Ex-Präsident Lula da Silva wegen Korruptionsverdachts statt. Die Rechte reorganisiert sich, während die Arbeiterpartei aufgrund der Skandale und Legitimitätsverluste im Zuge ihrer neoliberalen Politik politisch gelähmt ist.

Ende Februar 2016 kam es zu einem weiteren wichtigen wahlpolitischen Ereignis: Der bolivianische Präsident bzw. die ihn stützenden Kräfte verloren ein Referendum, das den neuerlichen Antritt von Evo Morales bei der Präsidentschaftswahl 2020 sichern sollte.

Klar ist, dass sich linke Politik nicht nur in Wahlen erschöpft, sondern in vielfältigen Formen gesellschaftlicher Gestaltung besteht. Doch gerade in Lateinamerika ist besonders deutlich, dass rechte und wirtschaftsliberale Politik die Bedingungen für emanzipatorische Initiativen dramatisch einschränkt und daher dem Kampf um die politische Macht eine große Bedeutung zukommt.

Es scheint zuzutreffen, dass – bei allen Differenzen zwischen den Ländern – die linken und Mitte-Links-Regierungen nach einer hegemonialen Phase mit relativ hoher Zustimmung sich aktuell und aus teilweise unterschiedlichen Gründen in einer regressiven Phase befinden.

In einigen Ländern scheint die politische Rechte unaufhaltsam zurückzukommen. Sie präsentiert sich gesellschafts- und wirtschaftspolitisch als liberal, gegen staatliche Gängelung und Klientelismus gerichtet, Stabilität und Wohlstand versprechend. Im Gewand der Post-Politik werden die realen gesellschaftlichen Konflikte negiert. Doch das hielt nicht lange an. Schon bald zeigte sich Argentiniens Macri als antidemokratischer Hardliner.

Vergessen (gemacht) wird dabei, dass die autoritär-neoliberalen Regierungen seit den 1980er Jahren durchaus auch Inflation erzeugten (bzw. diese mit der Bindung an den Dollar bekämpften, mit meist negativen sozialen Folgen), die Deregulierung der Wirtschaft eine enorme Wirtschaftskonzentration und den Ausverkauf staatlichen Eigentums an internationale Firmen vorantrieben, Verarmung und Gewalt förderten, sozialstaatliche Politiken geschwächt wurden.

Damit stellt sich die Frage: Befinden wir uns am Ende eines „progressiven“ gesellschaftspolitischen Zyklus? Entzieht, bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern, die Bevölkerung den progressiven Projekten mehr und mehr ihre Zustimmung?

Die Jahre nach 2000/2003 gingen für viele Menschen in Ländern mit progressiven Regierungen mit einer Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Lebenssituation, Erwerbsarbeits- und Aufstiegsmöglichkeiten, mit persönlicher Sicherheit und – trotz permanenter Angriffe der Rechten wie in Venezuela – politischer Stabilität einher. Eine wichtige Bedingung dafür war, dass das Wirtschaftsmodell des Neo-Extraktivismus für einige Jahre den Ländern erhebliche, und nach der Krise der 1990er Jahren kaum zu erwartende, finanzielle Zuflüsse brachte.

Und es sollte nicht vergessen werden, dass die Linkswende in Lateinamerika weltweite Bedeutung hatte und bis heute hat. Während in anderen Teilen der Welt eher konservativ-neoliberale Parteien oder eine neoliberalisierte Sozialdemokratie regierten und rechtsextreme Tendenzen zunahmen, es in Ländern wie China oder Russland zu autoritären Entwicklungsregimen kam, entwickelte sich in Südamerika ein Laboratorium für Alternativen.

Linke Hoffnungsträger in Europa wie Syriza in Griechenland und vor allem Podemos in Spanien übernahmen viele politische Erfahrungen und Anregungen aus Lateinamerika und bleiben bis heute seltsam unkritisch gegenüber den autoritären Entwicklungen dort. Wahrscheinlich haben die linken Bewegungen und Regierungen in Lateinamerika auch dazu beigetragen, dass die US-Regierung ihr Verhältnis gegenüber Cuba überdenkt und sich diesbezüglich politisch bewegt hat.

Kontroverse Einschätzungen

Die Einschätzungen der aktuellen Regierungen gehen weit auseinander. Die einen wenden sich enttäuscht ab und klagen an, dass die Regierungen sich politisch nach rechts gewendet hätten und eine Art neuen Neoliberalismus durchsetzten. Während die rechten Regierungen mit ihren Mega-Projekten im Bergbau oder bei Infrastrukturen auf erheblichen Widerstand gestoßen sind, würden sie nun von den progressiven Regierungen durchgesetzt.

Andere verteidigen die Regierungen, die sich selbst weiterhin als progressiv bezeichnen, gegen jegliche Kritik. Sie vermuten hinter einer solchen „ultralinken“ Kritik , dass diese die durch die postneoliberalen Regierungen erreichten historischen Errungenschaften in den einzelnen Ländern wie auch die größere Unabhängigkeit gegenüber den USA durch die regionale Integration negiere und keine eigenen Vorschläge unterbreite. Sie würde nur auf die „Zivilgesellschaft“ setzen und den Staat ablehnen, sei nur in der öffentlichen Meinung präsent, nicht aber in den konkreten sozialen Kämpfen. Die Kritik wird dahingehend denunziert, dass sie von ehemaligen Regierungs-BeraterInnen und NGOs formuliert werde, die ohnehin allesamt von Finanzunternehmen des Nordens gegründet wurden, um neoliberale Strukturanpassungen durchzusetzen sowie einer undankbaren Mittelklasse, die den Aufstieg doch eben den progressiven Regierungen zu verdanken habe. Darüber hinaus würde sie von realitätsfernen und machtpolitisch naiven Pachamamistas formuliert, also jenen, denen es vor allem um die Rettung der Mutter Erde, der Pachamama ginge. Im Grunde gebe es nur eine Konfliktlinie: Jene zwischen den progressiven Kräften, angeführt von Evo Morales, Lula da Silva, Rafael Correa und Cristina Kirchner einerseits und der auf konservative Restauration setzenden Rechten auf der anderen Seite. Bei allen Spannungen seien die progressiven Regierungen und die von ihnen regierten Staaten eben jene Maschinerie, auf die sich die dezentralen Wünsche und Entscheidungen sozialer Bewegungen konzentrierten. Die Implikation dieser Positionen ist klar: Jede Kritik an den linken Regierungen stärkt die Rechte.

Diese Gegenüberstellung selbst ist jedoch fatal. Die Position eines von vermeintlich progressiven Kräften durchgesetzten Neoliberalismus übersieht, dass es durchaus zu stärkeren Staatsinterventionen in die Wirtschaft kam, zur Reduktion von Armut (nicht aber von Ungleichheit). UNICEF schätzt, dass zwischen 2003 und 2011 in Lateinamerika etwa 70 Millionen Menschen der Armut entkommen sind. In den wirtschaftlich dynamischen Jahren haben Beschäftigung und Realeinkommen deutlich zugenommen. Es kam zu Ansätzen regionaler Integration, die nicht neoliberal ausgerichtet waren. In diesen Kontext gehören auch Debatten um eine neue internationale Finanzarchitektur oder die Gründung der Banco del Sur im Jahr 2009. Auf der Ebene der politischen Kräfteverhältnisse wurden die rechts stehenden Kräfte für einen nicht unerheblichen Zeitraum desorganisiert und von den politischen Machtzentren ferngehalten.

Umgekehrt ist die Verunglimpfung der linken KritikerInnen überzogen: Die angebliche Abwesenheit der regierungskritischen Linken in den sozialen Kämpfen und ihre vermutete pauschale Ablehnung des Staates ist eine böse Unterstellung. Vor allem aber reproduziert sie ein Freund-Feind-Denken, das nicht nur Differenzierungen unmöglich macht, sondern auch zu politischen Fehlschlüssen verleitet. Und sie verunmöglicht linke und emanzipatorische Kritik an Entwicklungen, die hochgradig widersprüchlich und von vielfältigen Eigeninteressen geprägt sind und bei denen natürlich Fehler gemacht werden.

Eine Einschätzung der aktuellen Situation in Lateinamerika bedarf daher einer Analyse von konkreten Konjunkturen und Strategien, bestehenden und sich verändernden Kräfteverhältnissen und Strukturen.

Neo-Extraktivismus: Verpasste wirtschafts- und gesellschaftspolitische Chancen

Das (vorläufige) Ende des Ressourcenbooms und die während dieser Zeit verpasste Chance auf einen Umbau der Produktionsweise weg vom Rohstoffexport – samt einer Schwächung mächtiger Wirtschaftsgruppen – sind ein wesentlicher Faktor für die aktuelle Krise und Kritik. In der Diskussion ist weitgehend unstrittig, dass die grundlegende Struktur der Abhängigkeit von den Rohstoffexporten, von geringer Wertschöpfung in den jeweiligen Ländern und der damit verbundenen subalternen Integration in den Weltmarkt nicht verändert wurde. Die exportorientierten Kräfte der Bourgeoisie und des Kapitals, die selbst hochgradig internationalisiert sind, blieben entsprechend stark und setzten ihre Interessen gegen nach innen gewendete wirtschaftspolitischen Strategien entsprechend durch. In allen Ländern bleibt eine „duale“ Wirtschaft – hier der dynamische und politisch unterstützte Exportsektor, im Schatten davon andere Bereiche – weitgehend erhalten. Es kam zwar durchaus zu Industrialisierungsprozessen in der Tradition der Importsubstitution, doch diese blieben zum einen relativ gering und zum anderen eng mit den neo-extraktivistischen Bereichen verknüpft.

Trotz vielfacher Ankündigungen wurden die enormen Exportüberschüsse nicht oder zu wenig in produktive Prozesse jenseits der Ressourcenextraktion investiert, die Wirtschaftsstruktur damit kaum diversifiziert, die Produktivitätsunterschiede zwischen verschiedenen Wirtschaftssektoren und die Abhängigkeit von Industrieimporten für den Konsum nicht verringert. Die enorme Land-, Unternehmens- und Reichtumskonzentration wurde nicht angegangen und trotz erfolgter Armutsbekämpfung die strukturelle Situation der Armen nicht verbessert. Das neo-extraktivistische Modell wurde ausgeweitet und auf Dauer gestellt, insbesondere durch langfristige Verträge mit chinesischen Unternehmen und der chinesischen Regierung.

Die dominanten wirtschaftspolitischen Orientierungen waren und sind weiterhin Wirtschaftswachstum, Exportorientierung, Freihandel und Attraktion internationaler Investitionen. Die durchaus erfolgreiche Armutsbekämpfung wird darüber hinaus zum zentralen Begründungsmuster, um das neo-extraktivistische Entwicklungsmodell voranzutreiben. Hohe Exporterlöse und ein Erhalt der Wirtschafts- und Sozialstruktur sind das Kompromissterrain, auf dem die Oligarchie, die Mittelklassen und die Armen zufriedengestellt werden können. Venezuela wäre hier auszunehmen, weil es dort durchaus um eine Schwächung der Oligarchie ging (aber auch mit der Entstehung einer Schicht von „bolivarianischen“ Neureichen). Und auch in Bolivien kam es zu Veränderungen in der Sozialstruktur und zu einem „anti-rassistischen“ Austausch der Eliten.

Eine weitergehende Transformationsperspektive verengte sich zunehmend auf kurzfristig zu behandelnde – und enorm wichtige – Fragen der Armutsbekämpfung und auf Lohnsteigerungen. Dieter Boris sieht eine Entwicklung vom Anti-Neoliberalismus zum Post-Neoliberalismus, d.h. es handle sich um eine „diskursive Negation, aber nur partielle und selektive reale Abkehr von neoliberalen Orientierungen.“

Aktuell verringern sich die Handlungsspielräume aufgrund der sinkenden Rohstoffpreise dramatisch. Die einseitige Orientierung am Ressourcen-Extraktivismus hat die Möglichkeiten progressiver Politik im Rahmen einer transformierten politischen Ökonomie eher eingeschränkt. Ob die Regierungen ihre unbedingte Orientierung an den Ärmsten in dieser veränderten Konstellation halten können, ist eine offene Frage.

Dabei schienen die Bedingungen nie besser, um die Strukturen der Abhängigkeit zu verändern: Umfassende, dem Staat zur Verfügung stehende Finanzmittel und verfassungsrechtliche Möglichkeiten, die grundlegende Unterstützung aus der Bevölkerung, intensive Diskussionen über Alternativen in den Ländern und auf regionaler Ebene sowie – in Lateinamerika nie zu vergessen – ein internationaler Kontext, in denen die USA nicht den Hardliner gaben.

Den Regierungen und den sie stützenden Kräften kann der Vorwurf gemacht werden, dass sie zwar eine Politik der materiellen Verteilung betrieben haben, aber keine Umverteilung des wirtschaftlichen Vermögens und Einkommens und entsprechend der sozialen Macht. Auch die Bourgeoisie hat vom Ressourcenboom profitiert und es gab keine oder kaum emanzipatorische Politiken zur Veränderung der Kräfteverhältnisse. Eine dezidierte Politik, um die gesellschaftlichen und damit auch sozio-ökonomischen Kräfteverhältnisse zu verändern, wäre natürlich mit erheblichen Konflikten einhergegangen. Das ist insbesondere in Ländern wie Argentinien oder Venezuela mit einer starken konservativen Opposition bedeutsam. Die Rechte zeigte immer wieder, dass sie sich reorganisieren kann. Beispiele sind der Putschversuch in Venezuela im Jahr 2002, der Agrarstreik in Argentinien im Jahr 2008, als sich die Agrarexporteure erfolgreich gegen höhere Exportsteuern durchsetzten und die harten Auseinandersetzungen mit der konservativen Elite im Tiefland Boliviens. Dennoch kann im Nachhinein der Spielraum für emanzipatorische Politik größer eingeschätzt werden. In Ländern mit starker indigener Bevölkerung und gut organisierten Bewegungen wurden diese nicht zu Bündnispartnern der Regierungen gegen die Oligarchie, sondern entweder manipuliert und teilweise kooptiert oder weiterhin ausgegrenzt und kriminalisiert.

So bleibt etwa, trotz der Beschäftigungszunahme, der Arbeitsmarkt gespalten: Auf der einen Seite ein gewerkschaftlich organisierter Sektor mit relativ hohen Einkommen, Arbeitsplatzsicherheit und gutem Zugang zu den staatlichen Apparaten. Auf der anderen Seite ein großer Teil prekarisierter und informalisierter Beschäftigter, die schlecht organisiert sind und für die es zentralisierte Unterstützung gibt.

Die alten Probleme kamen inzwischen zurück. So stellten sich nach Ende des Zusammentreffens günstiger Faktoren von ca. 2002/2003 bis 2013 (kräftige Expansion der Weltwirtschaft, hohe Preise für Rohstoffe vor allem durch die enorme Nachfrage aus China, zeitweise Unterbewertung der eigenen Währung, günstige Bedingungen für Kredite und Staatsanleihen etc.) die alten Probleme (steigendes Inflationstempo, wachsende Haushaltsdefizite, Handelsbilanzdefizite, Schwund der zuvor aufgehäuften Devisenreserven etc.) wieder ein. Eine wachsende Auslandsverschuldung könnte in eine neuerliche Schuldenkrise umschlagen.

Grenzen regionaler Integration

Dazu kamen Initiativen, die nicht oder zu wenig ihre Wirkung entfalteten. Die Banco del Sur funktioniert kaum, denn die brasilianische Regierung orientiert sich eher hin zu den anderen BRICS-Ländern. Der Aufbau gemeinsamer Währungsreserven und eine Koordination der Wechselkurse findet nicht statt, die Verhandlungen und Abkommen mit Chinas Staat und Firmen werden von den lateinamerikanischen Regierungen jeweils einzeln verfolgt. Mitunter wird die subimperiale Politik der brasilianischen Regierung kritisiert, deren Entwicklungsbank BNDES eine zentrale Rolle im Land selbst und bei der Durchsetzung von brasilianischen Wirtschaftsinteressen in anderen Ländern spielt.

Zudem: Die regionalen Integrationsprozesse führten eher zur Intensivierung als zum Bruch mit dem neo-extraktivistischen Entwicklungsmodell. Regionale Integration bedeutet heute sehr stark der Aufbau gemeinsamer Infrastrukturen in Form von Land- und Wasserwegen sowie Häfen. Das geschieht oftmals mit chinesischem Kapital und das Ziel ist, die Region und ihre Rohstoffe noch stärker in den Weltmarkt zu integrieren.

Die progressiven Regierungen bemühten sich durchaus um ein weniger abhängiges Verhältnis zu den USA – bei gleichzeitig anti-imperialistischer Rhetorik – und in der Tat haben die USA ihre offen interventionistischen Politiken zumindest unterbrochen. Doch eben jene USA bemühen sich aktuell intensiv um Freihandelsabkommen mit Asien und Europa. Der neue argentinische Präsident Macri hat bereits signalisiert, dass er sein Land wieder stärker an die USA binden möchte und damit den Regierungen Chiles, Mexikos, Perus und Kolumbiens folgt. Entsprechend lobte US-Präsident Barack Obama im März die neue Regierung, stattete ihr einen Besuch ab und disqualifizierte die frühere Präsidentin als „anti-amerikanisch“, und dies mit einer politischen Rhetorik aus den 1960er und 1970er Jahren.

Ausbleibende Staatsreformen

Der von den progressiven Regierungen proklamierte Post-Neoliberalismus konzentrierte sich rhetorisch und politisch stark auf die Rolle des Staates. In der Tat haben sich die öffentlichen Investitionen in allen Ländern stark erhöht. Doch die staatlichen Apparate selbst wurden kaum verändert. Auch dadurch verloren viele Regierungen ihre Legitimität. Gerade weil sie den Staatsapparat vor allem als Disziplinierungsinstanz, aber kaum in anderen Sektoren modernisierten, weil autoritäre Strukturen, Klientelismus und Korruption nicht zurückgedrängt wurden.

Die Fixierung auf den Staat als politisches Kampffeld wurde komplementiert durch die Fixierung auf Parteien sowie – in Ländern wie Venezuela, Ecuador und Bolivien – mit zunehmender Zentralisierung. Die Bürokratisierung und Vereinheitlichung der Parteien mit dem Führungsanspruch von „Staatsparteien“ erschwert jedoch innerparteiliche Diskussionen um Alternativen und Fehler ganz entscheidend

Wichtige und mittelfristig notwendige Strukturreformen, die naheliegend gewesen wären, blieben aus: Eine nicht nur quantitative Ausweitung des öffentlichen Sektors, sondern auch eine spürbare Steigerung der Qualität öffentlicher Dienstleistungen durch vermehrte Investitionen, verbesserte Zugangsmöglichkeiten, eine weitgehende Bildungsreform und die Qualifizierung des staatlichen Personals. Die Errichtung eines effektiven und progressiven Steuersystems, das die Staaten auf eine solide und breitere Finanzierungsbasis stellt als auf jene höchst unsichere der Rohstoffrente. Auch der öffentliche Finanzsektor wurde nicht in dem Maße ausgedehnt, um den Regierungen ausreichend Handlungsspielraum zu geben.

Es gab keine Transformation des Staates weg von seiner zentralistischen, autoritären, vertikalistischen und bürokratischen Ausrichtung, weg von der Figur des – meist männlichen – Caudillos, der das gesellschaftliche Allgemeininteresse und den Staat repräsentiert und damit vermeintliche soziale Kohärenz schafft. Die Vertiefung demokratischer Prozesse, die etwa zu Beginn in Venezuela und Argentinien durchaus bedeutend waren, wurde abgeblockt.

Viele linke Kräfte sind dahingehend konservativ, dass sie auf die Reproduktion des Staates setzen, nicht auf seine Veränderung.

Der postkoloniale Staat bleibt tief in die Gesellschaften eingeschrieben, nämlich in die seit der politischen Unabhängigkeit bestehende liberale Form des Staates. Er stellt damit eine wichtige, aber keine unüberwindbare Hürde für transformatorische Politiken dar. Die Staaten bleiben, aller anderen Bekundungen zum Trotz, republikanische Staaten, die sich von der Gesellschaft trennen, repräsentative Demokratie und Gewaltenteilung institutionalisieren (die oft nicht funktioniert) sowie die Machtorgane am Präsidenten ausrichten. Doch die sozio-ökonomische Grundlage der Staaten und die bestehenden Klassenverhältnisse bleiben getrennt und die progressiven Verfassungen kommen an diesen Kern kaum heran. Gleichwohl bleibt das Terrain des Staates eben auch eines der Kämpfe um Demokratie und Demokratisierung

Eindämmung sozialer Bewegungen und Kreativität

Der Neo-Extraktivismus stärkt ein ohnehin auf die Exekutive hin orientiertes politisches System und damit die Versuchung, bei Widerständen Entscheidungen nicht demokratisch auszuhandeln, sondern autoritär durchzusetzen. Mit Staatsfixierung und Caudillismo werden zudem das überschüssige radikale Potenzial und die transformativen Vorstellungen vieler sozialer Bewegungen eingebunden, ignoriert oder unterdrückt. Die weitergehenden Ansprüche großer Bevölkerungsteile und vieler sozialer Bewegungen werden in eine staatlich verordnete Form gesellschaftlicher Entwicklung, sozialer Inklusion und an individuellem Konsum orientiertem Wohlstand eingepfercht.

Das geht einher mit einer starken Bürokratisierung von staatlicher Politik und politischer Passivierung. Die Linksregierungen stellen die dynamischen sociedades en movimiento infrage, weil sie bei ihren Politiken insbesondere ihre Wiederwahl im Blick haben und daher immer wieder zu Kompromissen mit rechten Kräften bereit sind.

So ist der Sieg Macris in Argentinien auch zu verstehen als Ablehnung des Kirchnerismus, insbesondere seiner zunehmenden Unfähigkeit, sich den alltäglichen Sorgen und politischen Forderungen (die kaum noch artikulierbar waren) breiter Teile der Bevölkerung überhaupt zu stellen. Die Regierung, so charakterisierte es eine argentinische Kollegin, hat sich in der politischen Blase permanenter, sich von realen Problemen distanzierenden Hyper-Politisierung eingeschlossen. Entsprechend dürfte die Einschätzung vieler PeronistInnen verfehlt sein, die verlorene Wahl sei die Verkettung unglücklicher Umstände und in vier Jahren sei man „zurück“.

In Venezuela gab es zu Beginn der Umbrüche spannende rätedemokratische Ansätze wie etwa die Misiones in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Wohnen oder die kommunalen Räte (consejos comunales). Ein erfolgreicher Kampf gegen die aktuell offensive Rechte hängt vor allem davon ab, ob die chavistische Bürokratie zu Selbstkritik und Änderungen in der Lage ist und es zu neuerlichen Mobilisierungen und Selbstorganisationsprozessen der Bevölkerung kommen wird.

Schließlich: Die post-neoliberale Rhetorik, die sich stark an der Frage der Staatsintervention orientiert, unterschätzt zudem, dass das neoliberale Projekt auch in anderen Bereichen erfolgreich war: In den mikropolitischen Sphären des Denkens, Fühlens und Begehrens sowie in der Herstellung verallgemeinerter Konkurrenz und akzeptierter Hierarchien. Das wurde und wird von den progressiven Regierungen nicht angegangen, sondern durch die Ausweitung der Konsummöglichkeiten und des Individualismus eher verstärkt.

Wo befindet sich Lateinamerika aktuell? – Perspektiven transformatorischer Politik

Modonesi bezeichnet, bei allen Differenzen, die linken und linksliberalen Regierungsprojekte als Teil einer „passiven Revolution“ im Sinne Antonio Gramscis. Ausgehend von den multiplen anti-neoliberalen Kämpfen seit den 1990er Jahren kam es zu Veränderungen unter der Führung linker und links-liberaler Eliten, die neue Konsense schafften und größere Teile der Bevölkerung stärker politisch und materiell an der Gesellschaft teilhaben ließen, ihnen Aufstiegsmöglichkeiten boten. In einigen Bereichen kam es zu wichtigen Umorientierungen: Argentinien etwa betrieb eine ernsthafte Menschenrechtspolitik und trieb die Aufarbeitung der Militärdiktatur von 1976-83 voran. Doch die sozio-ökonomischen, politischen und kulturellen Strukturen blieben weitgehend erhalten.

Insbesondere in den Andenländern Bolivien, Ecuador und Venezuela wurden in den anti-neoliberalen Kämpfen weitgehende Ansprüche an gesellschaftliche Transformation formuliert: Neben nationaler Souveränität, der Verfügung über und des Schutzes der natürlichen Ressourcen gegen ausländische Interessen an deren übermäßiger Ausbeutung die Ausweitung demokratischer und kollektiver Rechte und die Abkehr von der abhängigen Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt, bis hin zur Ent-Kolonisierung und Ent-Patriarchalisierung des Staates, der Stärkung der Rechte indigener Völker und zu grundlegend anderen Naturverhältnissen und eigenständigen Rechten der Natur (wie in der Ecuadorianischen Verfassung, Art. 72 festgehalten wird, der die Respektierung ihrer Existenz, ihres Erhalts und ihrer Regenerierung einfordert).

Wir erleben derzeit in eher gegenläufiger Richtung – und durchaus parallel zu Europa – die Aufwertung von Sicherheitsdiskursen. Sie versprechen den Menschen angesichts der wirtschaftlichen und im Alltag erlebten Unsicherheit – neben der Verlängerung des aktuellen Modells von Wirtschaftswachstum und Konsummöglichkeiten – eben zuvorderst „Sicherheit“. Doch diese gilt nicht für alle gleich. Die Diskurse und Politiken gehen vielmehr einher mit wachsenden Ausgrenzungen und Grenzziehungen, mit Rassismus und Klassismus und mit Gewalt gegenüber den Armen. Innergesellschaftliche Hierarchien werden festgeschrieben. Eine nationalistische Rhetorik verstärkt diese Prozesse von Spaltung und Ausgrenzung.

Kommen wir also zur Ausgangsfrage zurück: Stehen wir am Ende des progressiven politischen Zyklus, am fin del ciclo progresista?

Das ist noch nicht klar zu beantworten – die Geschichte ist und bleibt offen. Doch in der Diskussion werden wichtige Dimensionen genannt, um zu einer analytisch und politisch gehaltvollen Einschätzung aktueller Konstellationen zu kommen.

Es kommt, so schlussfolgern einige BeobachterInnen, nicht unbedingt zu einem weitgehenden Ende des progressiven Zyklus. Schon wenn man das Kriterium der Regierungen anlegt: Viele linke und Mitte-Links-Regierungen bleiben ja an der Macht und es gibt die beschriebenen – in ihrer Einschätzung kontroversen – Errungenschaften. Es geht auch nicht alles in eine Richtung: In Chile wurde, wie gesagt, der Wahlsieg der Rechten von 2009 im Jahr 2013 von der Mitte-links-Kandidatin Michelle Bachelet umgekehrt.

Ein zweites zu berücksichtigendes Element: Es ist nicht ausgemacht, dass die Rohstoffpreise dauerhaft niedrig bleiben oder doch künftig deutlich steigen und damit gesellschaftliche Verteilungsansprüche und politische Verteilungsspielräume wieder zunehmen, die ja nachweislich eher von progressiven Regierungen genutzt werden. Doch darauf ist zum einen nicht zu setzen, zum anderen zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre, dass hohe Einnahmen aus dem Rohstoffexport nicht zu Strukturreformen führen müssen.

Beobachter sprechen eher von einer starken Erschöpfung (agotamiento) in dem Sinne, dass die ursprünglich formulierten und an die Regierungen gestellten Erwartungen nicht erfüllt wurden und eine emanzipatorische Radikalisierung der Prozesse in keinem Land absehbar ist.

Von einer zunehmenden Komplexität der lateinamerikanischen politischen Landschaft geht Valeria Puga Álvarez aus. Zum einen habe die Rechte kein eigenes Programm, sondern komme anti-politisch und mit viel Pomp farbenfroh, aber nicht explizit neoliberal daher. Denn: Neoliberale Politiken würden weiterhin auf breite Ablehnung stoßen. Entsprechend werde die Rechte eher aufgrund der Fehler der aktuellen Regierungen, verbreiteter Korruption und der internationalen ökonomischen Bedingungen stark. Zudem sei es eine Verkürzung, den Beginn des Zyklus mit den Wahlsiegen ab 1998 in Venezuela gleichzusetzen. Der als Caracazo bezeichnete Aufstand in der Hauptstadt Venezuelas im Jahr 1989 war ein genauso wichtiger Vorläufer wie der Aufstand der Zapatistas 1994, die breiten Mobilisierungen gegen das gesamtamerikanische Freihandelsabkommen oder die Piqueteros in Argentinien. Umgekehrt könne man zwei Wahlniederlagen, so bedeutend sie auch seien, nicht mit dem Ende einer Epoche gleichsetzen.

Dennoch: Der post-neoliberale Zyklus in seiner kontinentalen Dimension hatte vier Säulen, nämlich den Chavismus in Venezuela, den Petismus in Brasilien, den Kirchnerismus in Argentinien – die allesamt unter Druck sind – sowie die MAS in Bolivien. Macri hat in Argentinien bereits gezeigt, wie politisch aggressiv gegen die Errungenschaften der letzten Regierungen vorgegangen wird. Die MUD in Venezuela hat wohl Ähnliches vor. Daher ist für den Kontinent derzeit von einem „Aufeinanderprallen politischer Kräfte“ (embate de fuerzas) zu sprechen – und deshalb sind die Entwicklungen in Brasilien so wichtig. Neben der Verhinderung der rechten Projekte und Regierungen geht es entscheidend um Selbstkritik, das Eingeständnis der (vielen) gemachten Fehler und um dringende Veränderungen. Puga Álvarez empfiehlt daher die Bildung neuer Kader, eine strikt ethische Orientierungen linker Parteien und der von linken Regierungen geführten Staaten sowie damit verbundene in größere Effizienz öffentlicher Politiken, eine grundlegende Veränderung des Produktionsmodells, der Aufbau kultureller Hegemonie sowie die Beschleunigung regionaler Integration.

Modonesi vertritt die These, dass es nicht zu einem Ende des progressiven Zyklus per se kommt, aber zu einem relativen Verlust der Hegemonie, also einer zunehmenden Unfähigkeit, klassenübergreifende Bündnisse und eine starke Verankerung in der Bevölkerung herzustellen und zu erhalten. Die PT-Regierung unter Rousseff in Brasilien, die direkt nach ihrer Wiederwahl Sozialkürzungen einleitete und ein Jahr lang (2015) einen wirtschaftsliberalen Finanzminister einsetzte, ist ein Beispiel dafür. Neben Brasilien erleben wir in Argentinien und Ecuador eher eine Fragmentierung des Machtblocks, weniger in Bolivien und Uruguay, wo der linke Machtblock noch stärker ist und die politische Rechte geschwächt bleibt.

Es handelt sich demzufolge um eine katastrophale Pattsituation. Die Krise der progressiven Regierungen zeigt, dass der Caudillismo in seiner national-popularen Form als politische Ressourcen strategisch eingesetzt wurde. Heterogene Akteure wurden mobilisiert und zusammengebracht. Doch gleichzeitig wurden die herrschenden Klassen nicht geschwächt und die Kanäle intensiver Beteiligung von unten versperrt. Letzteres führt zu der auf den ersten Blick irritierenden Tatsache, dass sich die anti-neoliberalen Bewegungen kaum für jene Regierungen mobilisieren, die ihre vermeintlichen Interessen verkörpern. Genau deshalb spitzt sich die Verteidigung der sich immer noch als progressiv bezeichnenden Kräfte derart auf die Figuren der PräsidentInnen zu und wird jegliche Kritik als Verrat denunziert. Es wirkt in den Debatten so, als ob das Schicksal der Gesellschaften eben an jenen Caudillos hinge.

Die einzig mögliche politische Antwort der progressiven Projekte scheint dann ein autoritäres bonapartistisches Projekt, in der die cäsaristische Führungsfigur ein Gleichgewicht der Kräfte verkörpert bzw. „eine große Persönlichkeit“ es „schiedsrichterlich“ (Gramsci) sichert. Reformen sind dabei durchaus möglich, mit diesen werden aber die Interessen der herrschenden Kräfte nicht angegriffen, sondern diese durch die autoritäre Herrschaft eher gesichert.

Das sind keine guten Aussichten für transformatorische und emanzipatorische Politik.

Wie weiter?

Von höchster Dringlichkeit scheint mir in Lateinamerika, aber auch anderswo, die Räume für kritische Reflexionen über die jüngste Vergangenheit nicht zu schließen. Nur so können politische Initiativen formuliert und ermuntert werden, in denen die genannten Probleme angegangen werden. Auch wenn die skizzierte – trotz aller Ambivalenzen – vorteilhafte internationale Konstellation sich gegenwärtig verändert, bleiben genug Spielräume. Dazu ein paar abschließende Bemerkungen.

Die Wiedererlangung einer emanzipatorischen Perspektive impliziert, Politik anders zu denken. Dabei insbesondere den Staat nicht als zentralen Akteur eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – oder wie auch immer die progressiven Projekte sich nennen – zu verstehen. Notwendig wäre, trotz aller benannten Strukturprobleme, ihn als Terrain und Akteur zu begreifen, der sich ständig „von unten“, d.h. aus der kritischen Zivilgesellschaft heraus erneuern muss. Das Interessante zu Beginn der Linksentwicklungen in Lateinamerika lag ja daran, in der Krise des neoliberalen Staates eben Politik ganz anders zu denken – als produktives und spannungsreiches Verhältnis von sozialen Bewegungen, solidarischen Praktiken und Staat. Das wird in Zukunft nicht einfach werden. Denn es gibt bei vielen emanzipatorischen Bewegungen eine große Enttäuschung über sich schließende institutionelle Wege bei „ihren“ Regierungen, um für ihre widerständigen oder alternativen Anliegen Gehör zu finden. Der Staat wird in seiner revolutionären Interpretation als Konzentration der Anliegen sozialer Bewegungen eben von diesen gar nicht so erfahren. Er bleibt vielmehr ein Ort von vermeintlich linkem Klientelismus, von Ignoranz gegenüber emanzipatorischen Perspektiven oder gar von Repression.

Darüber hinaus bedarf emanzipatorische Transformation der Überwindung jener vielfältigen Formen von Kolonialität, die die Gesellschaften weiterhin in den unterschiedlichsten Bereichen durchziehen – von rassistischen und patriarchalen Verhältnissen bis zu den fest verankerten Vorstellungen von „Entwicklung“.

Eine Bedingung dafür wird sein, die Schwächung und Lähmung, Kooptation oder Repression der sozialen Bewegungen zu überwinden. Und in der Tat entsteht für Raúl Zibechi aktueller ein „neuer Aktivismus“, der sich von jenem der 1990er und 2000er Jahre unterscheidet. „Die heutigen Bewegungen sind weniger ideologisch und in ihren Forderungen konkreter, aber nicht weniger schlagkräftig. … (Es scheint) ein neues Bewusstsein zu entstehen, das größtenteils ein Produkt der Sozialpolitik der Linksregierungen ist. In den Favelas von São Paulo gibt es heute beispielsweise eine Vielzahl von UniversitätsstudentInnen, die dort vor zwanzig Jahren noch an einer Hand abzuzählen waren.“

Ab 2012 kam es zu massiven Protesten in Ländern mit linken oder Mitte-Links-Regierungen: In Argentinien die Streiks der LehrerInnen und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und später mehrere Generalstreiks (gegen den Willen der Gewerkschaftsbürokratie), in Brasilien die weltweit beachteten Proteste im Juni/Juli 2013 und dann mehrfach 2015/2016, in Bolivien die Proteste gegen das TIPNIS-Projekt und in Ecuador die massiven Proteste gegen die Regierung ab 2014 mit Vorläufern im Jahr 2012. Im Juni 2015 organisierte die argentinische Frauenbewegung Demonstrationen mit 350.000 Teilnehmenden gegen männliche Gewalt.

Damit stellt sich eine ebenso schwierige wie entscheidende Frage: Inwiefern spielen die Erfahrungen der sozialen Bewegungen, die ja überhaupt erst zu den progressiven Regierungen geführt haben, künftig eine Rolle? Denn in ihnen haben sich Erfahrungen und Subjektivitäten gebildet, die weit über die aktuell dominierenden Formen sozialer Inklusion hinausgehen. Statt nämlich gesellschaftliche Teilhabe über Ressourcen-Extraktivismus, Konsum und billige Importe von Industrieprodukten zu gewährleisten, bestanden viele soziale Bewegungen darauf, die gesellschaftliche Produktions- und Lebensweise ganz anders zu gestalten: Arbeit, Gesundheit, Wohnen, Bildung, soziale Netzwerke, eine Gesellschaft ohne strukturelle und offene Gewalt.

Die Epoche progressiver Regierungen scheint mit ihren historisch einmaligen Möglichkeiten ans Ende zu kommen. Das hat – neben den wahrscheinlich autoritären und neoliberalen bis zu faschistischen Antworten der Rechten in den jeweiligen Ländern selbst – Rückwirkungen für emanzipatorische transformative Politik in anderen Regionen der Welt. Denn die vermeintliche Unmöglichkeit linker Politik kann von interessierter Seite eben mit den lateinamerikanischen Erfahrungen unterstrichen werden: Gegen die Hierarchien des Weltmarktes, Freihandel, Exportorientierung und die Macht der Eliten, gegen die Attraktivität von kapitalistisch getriebenem Wirtschaftswachstum, gegen die bürgerlichen Formen von Staat und Politik zu Lasten sozialer Bewegungen und Kreativität von unten, gegen die unmittelbaren materiellen Interessen der Bevölkerung und ihr relatives Desinteresse an einer weitergehenden Transformation gäbe es kein Ankommen. Auch deshalb ist eine offene und informierte internationale Debatte wichtig.

Anmerkung der Redaktion: Beim vorliegenden Text handelt es sich um die gekürzte Fassung der Einleitung, die Ulrich Brand zu dem von ihm herausgegebenen Buch „Lateinamerikanische Linke. Ende des progressiven Zyklus?“ geschrieben hat (VSA-Verlag Hamburg 2016). Quellen- und Zitathinweise sind dort zu finden.